Wie jedes Jahr nach den Winterferien absolvierten die Schülerinnen und Schüler der E-Phase ihr Praktikum mit Fokus auf einem sozialen Berufsfeld und zwischenmenschlichen Interaktionen. Von der Betreuung in Kindergärten und Altenheimen bis zum Einsatz in der Bahnhofsmission oder dem Sozialkaufhaus waren die Einsatzorte und -institutionen so vielfältig wie die gemachten Erfahrungen. Abschließend wurden die Erlebnisse an einem Reflexionstag in den Kursgruppen besprochen, sodass die Schülerinnen und Schüler nicht nur ihre eigenen Erkenntnisse darlegen, sondern auch von denen der anderen profitieren konnten.
Besonders eindrucksvoll war die Darstellung eines Gesprächsprotokolls durch zwei Schüler, von denen der eine im Rahmen seines Praktikums in einem jüdischen Altenheim mit Eva Szepesi, einer Überlebenden des Holocaust, gesprochen hat. Die intellektuelle Analyse der Genese dieses Massenmords und der dahinterstehenden Ideologie kann und soll niemals die Unfassbarkeit des Geschehenen beseitigen. Die Dringlichkeit der Auseinandersetzung damit ist heute, wo wir wieder entmenschlichende Rhetorik im politischen Diskurs erleben, nach wie vor gegeben. Schule trägt dabei eine besondere Verantwortung. So formulierte der Frankfurter Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno, das Ziel aller Pädagogik sei, dass sich Auschwitz nicht wiederhole.
Es folgt ein kurzer Ausschnitt aus dem Gesprächsprotokoll:
Die Begegnung mit meiner Gesprächspartnerin Eva Szepesi fand nach dem Frühstück am ersten Tag meines Praktikums statt, als ein Teil der Bewohnerinnen und Bewohner noch mit dem Essen oder Schlafen beschäftigt war. Anlass des Gesprächs war eine Unterhaltung des Pflegeteams mit der Bewohnerin über einen Dreh der Tagesschau sowie weiteren Sendern, in denen die Bewohnerin als Zeitzeugin berichtete. Vor unserem Gespräch sahen wir uns gemeinsam mit allen Bewohnerinnen und Bewohnern ein Video über Frau Szepesi von der „hessenschau“ an und unterhielten und mit einzelnen Personen darüber. Diese Aufnahmen wurden anlässlich des Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers in Auschwitz gemacht, wobei die Frau als eine der wenigen Überlebenden von ihren Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager berichtete.
L: (Lior) Hallo Frau Szepesi, wäre es für Sie in Ordnung, wenn wir uns kurz über Ihre Geschichte, über die Sie im Video gesprochen haben, unterhalten können?
S: (Frau Szepesi): Klar können wir uns darüber unterhalten. Ich habe diese Geschichte schon so häufig erzählt und verbreite sie sehr gerne. Anfangs habe ich mich nicht getraut über diese Geschichte zu sprechen und habe es einfach verdrängt. Erst 1995, am 50. Jahrestag der Befreiung, traute ich mich, diese Geschichte erstmals in privaten Kreisen zu erzählen. Die ersten Male waren sehr schwer für mich, da ich bei den ersten Erinnerungen schon anfing zu weinen und innerlich zusammenbrach. Doch irgendwann habe ich mich überwunden, diese Geschichte zu erzählen.
L: Möchten Sie mir denn die Geschichte, was genau mit Ihnen passiert ist, etwas genauer erzählen, was und wie Sie alles wahrgenommen haben?
S: Ja, sehr gerne. Es begann schon 1938, als ich 6 Jahre alt war. Nur aufgrund meiner Religion musste ich meine Haustiere abgeben, durfte viele Orte nicht betreten und wurde auch in der Schule ausgegrenzt – all das nur, weil ich Jüdin bin. Auch bei uns in Ungarn, wo ich geboren wurde, traten solche Rassengesetze damals in Kraft. Nichtsdestotrotz hatte ich keine wirklich schlechte Kindheit, vor allem, weil meine Familie immer sehr gut zusammenhielt.
Gegen meine Familie wurden viele Menschen aufgehetzt und mein Vater musste 1942 in den jüdischen Arbeitsdienst, wo er als Jude auffällig gekennzeichnet wurde. Danach sah ich ihn nie wieder.
Am 19. März 1944, als die Deutschen Ungarn besetzten, spürte ich bei meiner Mutter und Tante eine starke Unruhe. Meine Tante lebte zu diesem Zeitpunkt seit fast einem Jahr bei uns, da sie aus der Slowakei geflohen war. Viele Jahre später erfuhr ich erst, dass viele meiner Familienangehörigen aus der Slowakei bereits 1942 deportiert und ermordet worden waren.
Ab dem 5. April 1944 musste meine ganze Familie den gelben Stern [die damalige Kennzeichnung für Juden] dauerhaft tragen. Eines Tages nahm mich meine Tante zu sich und sagte zu mir, ich solle mit ihr über die Grenze in die Slowakei gehen und mich taubstumm stellen. Meine Mutter und mein Bruder verabschiedeten mich am Bahnsteig mit einer innigen Umarmung und ich verstand nicht, warum meine Mutter so traurig war. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah.
Nach dieser lebensgefährlichen Flucht übergab meine Tante mich an fremde Menschen, wo ich täglich auf ein Lebenszeichen meiner Mutter wartete. In einer Nacht klopfte und schrie jemand lautstark an der Tür und sagte „zusammenpacken, mitkommen!“. Sie brachten uns in ein jüdisches Altersheim, von dem täglich Transporte in ein Sammellager gingen. Auch ich wurde mit dem letzten Zug, einem überfüllten Viehwagon, deportiert.
Als wir ankamen, hörte ich lautstarkes Gebrüll von SS-Männern mit Schäferhunden. Ich war angekommen in Auschwitz-Birkenau, ohne zu wissen, dass dort vier Monate zuvor meine Mutter und mein Bruder vergast worden waren. Nachdem ich mich ausziehen musste, wurden mir meine Zöpfe abgeschnitten und ich wurde kahlgeschoren. Ich fühlte mich, als hätte man mir meinen letzten Schutz genommen. Am nächsten Morgen folgte die Registrierung, wovor mir eine Aufseherin sagte, ich sei nicht jünger als 16. Als ich registriert wurde, bekam ich eine Nummer tätowiert, mit der ich ab diesem Tag nur noch angesprochen wurde. Ich hatte das Gefühl, draußen zu erfrieren und wurde misshandelt. Ich wurde immer schwächer und lag nur noch da […]. Als wir herausgetrieben wurden, hatte ich keine Kraft mehr aufzustehen und lag neben zahlreichen toten Frauen. Wahrscheinlich wurde ich auch für tot gehalten. Mit hohem Fieber und sehr schwach, spürte ich, wie ich mit Schnee gefüttert wurde und als ich meine Augen öffnete, sah ich einen russischen Soldaten, der sich lächelnd über mich beugte.
Es war der 27. Januar 1945 und ich lebte. Ich fühlte mich wie neugeboren. Nach einem langen Aufenthalt in einem Lazarett kam ich am 18. September 1945 zurück nach Budapest. Ich hoffte meine Familie widerzusehen. Mein Onkel entdeckte mich auf einer Liste der Überlebenden aus den Lagern und holte mich ab. Er sagte mir, dass immer wieder Transporte aus den Lagern zurückkamen und wir gaben die Hoffnung auf die Rückkehr meiner Mutter nicht auf, doch das war vergeblich.
Mit 17 lernte ich meinen späteren Mann Andor [o. ä.] Szepesi kennen, der auch den größten Teil seiner Familie verloren hatte. 1952 bekamen wir unsere erste Tochter Judith. 1952 wanderten wir nach Frankfurt aus, da mein Mann dort von der ungarischen Handelsvertretung hingeschickt wurde. Nach der ungarischen Revolution 1956 konnten wir nicht mehr nach Ungarn zurückkehren und blieben in Deutschland. Wir hatten hier gemeinsam ein Geschäft. 50 Jahre lang habe ich über meine Geschichte geschwiegen. Dann habe ich sie angefangen aufzuschreiben und veröffentlichte schließlich ein Buch [Ein Mädchen allein auf der Flucht: Ungarn – Slowakei – Polen (1944-1945)].
L: Frau S., ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie sehr mich ihre Geschichte berührt, und bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie bereit waren, mit mir so offen darüber zu sprechen.
S: Ich freue mich sehr, dass du mir so aufmerksam zugehört hast, denn ich versuche, diese Geschichte so häufig wie möglich zu erzählen
